Der Tengrismus, oft auch Tengriismus genannt, ist eine faszinierende Facette der Geistesgeschichte Zentralasiens. Tief in den Traditionen der alten Türken und Mongolen verwurzelt, gibt er Einblick in die kosmologischen Vorstellungen und die Naturverbundenheit dieser Kulturen vor der Ausbreitung des Islam.
Was bedeutet Tengri?
Tengri bedeutet in der alttürkischen Sprache „Gott“. Dieser Begriff ist jedoch nicht mit der monotheistischen Vorstellung eines persönlichen Gottes gleichzusetzen. Vielmehr bezeichnet Tengri eine unpersönliche Kraft oder das heilige Prinzip des Himmels, das sich in der Natur und im Kosmos manifestiert. Der Himmel oder „Gök“ spielte im Tengrismus eine zentrale Rolle und wurde als Kök Tengri, „Himmlischer Vater“, verehrt.
Die Prinzipien des Tengrismus sind in vielen alten türkischen Quellen dokumentiert, unter anderem in den berühmten Orhun-Inschriften. Diese Inschriften offenbaren ein Weltbild, in dem göttliche Wesen wie Kayra Han, der Vater von Gök Tengri, und andere mythologische Figuren wie Yer Tengri, Ülgen und Erlik eine wichtige Rolle spielen. Diese Figuren sind Teil einer umfassenden kosmogonischen Mythologie, die die Beziehungen zwischen den himmlischen Wesen und ihren Einfluss auf die menschliche Welt darstellt.
Die Praxis des Tengrismus
Im Tengrismus wird die Natur als ein Netzwerk von Kräften gesehen, das von Tengri gelenkt wird. Jedes Element der Natur, sei es ein Baum, ein Fluss oder ein Berg, wird als beseelt angesehen (Animismus). Diese Sichtweise führt zu einem tiefen Respekt vor der natürlichen Welt und bildet die Grundlage für ein ethisches Verhalten, das die Erhaltung der natürlichen Ordnung und Harmonie fördert.
Die Anhänger des Tengrismus glaubten, dass das Klima und die Naturphänomene direkt von Tengri beeinflusst werden. Unwetter und Naturkatastrophen könnten somit Ausdruck des göttlichen Willens sein. Diese Sichtweise verlieh dem Tengrismus eine zutiefst ökologische Dimension, da sie die Abhängigkeit des Menschen von den Launen und Gnaden der Natur betonte.
Historisch gesehen hatte der Tengrismus auch eine politische Bedeutung. Persönlichkeiten wie Dschingis Khan, der als einigender Herrscher in der Geschichte der Mongolei bekannt ist, bezogen ihre Legitimation und ihr Führungsmandat aus ihrer vermeintlichen Verbindung zum Tengri. Sie begannen ihre Edikte oft mit den Worten „Mit dem Wunsch des ewigen Himmels…„, was ihre Handlungen als im Einklang mit dem göttlichen Willen darstellte.
Schlussfolgerung
Der Tengrismus ist ein faszinierendes Beispiel dafür, wie alte Kulturen ihre Umwelt verstanden und wie diese Vorstellungen ihr Zusammenleben strukturierten. Die Wertschätzung des Himmels und der natürlichen Ordnung im Tengrismus zeigt, wie tief religiöse Überzeugungen und Praktiken in das Alltagsleben und die Weltsicht einer Kultur integriert sein können. Durch das Verständnis des Tengrismus erhalten wir nicht nur Einblicke in die Vergangenheit der türkischen und mongolischen Völker, sondern auch in universelle Fragen der Beziehung zwischen Mensch und Kosmos, die auch heute noch relevant sind.