Am 4. August 1922 starb Enver Paşa im Kampf gegen bolschewistische Kräfte nahe der tadschikischen Grenze. 92 Jahre nach seinem Tod bleibt sein Erbe umstritten und wird in den Medien kaum beleuchtet. Dabei war Enver Paşa eine zentrale Figur des osmanischen Reiches zu Beginn des 20. Jahrhunderts – gefeiert als „Hürriyet kahramanı“ (Freiheitsheld), aber auch kritisch betrachtet wegen seiner riskanten militärischen Strategien und politischen Entscheidungen.
Der Sarıkamış-Feldzug und seine Folgen
Wenn der Name Enver Paşa fällt, denken viele an den tragischen Sarıkamış-Feldzug im Ersten Weltkrieg. Hier führte die osmanische Armee, bei eisigen Temperaturen und unter schwierigen Bedingungen, einen verlustreichen Angriff gegen die Russen – eine Entscheidung, die Enver Paşa bis heute viele Kritiker einbrachte. In den Augen mancher Zeitgenossen galt er als „maceraperest“ (Abenteurer) und „kendini beğenmiş“ (selbstverliebt). Doch ob diese Beurteilungen gerecht sind, lässt sich schwer feststellen. Statt ihn nur zu verurteilen, ist es wichtig, seine Entscheidungen in ihrem historischen Kontext zu verstehen.
Aufstieg zum „Hürriyet kahramanı“
Enver Paşa wuchs in einer militärischen Tradition auf und diente nach seiner Ausbildung in der Makedonienregion, wo er gegen aufständische Makedonier und durch verschiedene Staaten unterstützte Balkanvölker kämpfte. Sein Engagement in dieser Zeit ließ ihn zunehmend zum Kritiker des Abdülhamid-Regimes werden. Mit der Revolution von 1908 und der Wiedereinführung der Verfassung wurde er als „Hürriyet kahramanı“ gefeiert, da er zu den ersten gehörte, die sich offen gegen den Sultan wandten.
Die Trablusgarp-Erfahrung als Wendepunkt
Enver Paşas militärisches Geschick zeigte sich erstmals während des italienischen Angriffs auf Trablusgarp (heutiges Libyen). Dort organisierte er einen Guerillakrieg gegen die italienischen Invasoren. Diese Erfahrung bestärkte ihn in dem Glauben, dass entschlossenes Handeln und Volksunterstützung eine militärische Überlegenheit ausgleichen könnten. Diese Überzeugung beeinflusste später seine politischen und militärischen Entscheidungen.
Harbiye Nazırlığı und die turbulente Kriegszeit
Mit der Machtergreifung des Komitees für Einheit und Fortschritt (İttihat ve Terakki) stieg Enver Paşa zum Harbiye Nazırı (Kriegsminister) auf. Seine enge Verbindung zu Deutschland während des Ersten Weltkriegs, die er unter anderem durch seine Erfahrungen als Militärattaché in Berlin pflegte, brachte ihm viele Vorwürfe ein, unter anderem, dass er das Osmanische Reich unüberlegt in den Krieg geführt habe. Die Allianzen und militärischen Fehlschläge, allen voran die Sarıkamış-Operation, prägen das Bild eines Mannes, der polarisiert.
Letzte Jahre in Russland und tragisches Ende
Nach der Niederlage des Osmanischen Reiches verließ Enver Paşa die Türkei und hielt sich zeitweise in Russland auf, wo er versuchte, die bolschewistische Unterstützung für seine Pan-Türkischen und antikolonialen Pläne zu gewinnen. 1922 zog er nach Türkistan, wo er gegen die sowjetische Herrschaft kämpfte und schließlich am 4. August 1922 in einer Schlacht fiel. Sein Leichnam wurde erst 1996 nach Istanbul überführt und neben Talat Paşa beigesetzt.
Fazit
Enver Paşa ist ein komplexer Charakter in der osmanischen und türkischen Geschichte – verehrt als Freiheitsheld, verurteilt als Abenteurer und immer wieder Gegenstand kontroverser Diskussionen. Sein Leben und Tod zeigen die Herausforderungen und inneren Konflikte einer turbulenten Ära, die das osmanische Reich unwiderruflich prägte. Die Erinnerung an ihn mahnt dazu, die Geschichte differenziert zu betrachten und nicht vorschnell zu urteilen.